Forschen für Assistenzsysteme Cybathlon: Technik im Wettbewerb
Anbieter zum Thema
Mit Assistenztechnologien Alltagsaufgaben bewältigen. So lautet der Titel auf der Homepage des Cybathlon-Wettkampfs. Er fasst all das zusammen, worum es dabei geht: Personen mit körperlichen Einschränkungen dank moderner Technik den Alltag zu erleichtern.

Was für die meisten von uns ohne Probleme «von der Hand geht», stellt für viele Menschen mit körperlichen Behinderungen eine grosse Herausforderung dar. Zum Beispiel Arbeiten im Haushalt wie Abwaschen und Kochen oder Treppensteigen.
Um diesen Personen mehr Selbständigkeit zurückzugeben und sie mit assistierender Robotertechnik zu unterstützen, entwickelt Prof. Dr. Robert Riener von der ETH Zürich seit vielen Jahren derartige Systeme. Die at – Aktuelle Technik traf den Visionär zu einem Interview in seinem Labor im Herzen von Zürich.
at – Aktuelle Technik: Was motivierte Sie, den Cybathlon ins Leben zu rufen und was war das Ziel bei seiner Gründung?
Robert Riener: Den Cybathlon führten wir im Jahr 2016 zum ersten Mal durch, die Idee dazu hatte ich jedoch bereits 2013. Mit der Forschung im Bereich Assistenzsysteme für Personen mit Querschnittslähmung begann ich bereits nach meinem Studium. Wir stellten seinerzeit fest, dass die Akzeptanz der Technologie für Prothesen und Assistenzsysteme noch lang nicht bei den Nutzern und in der Gesellschaft angekommen ist.
Dies vor allem durch Desinformation, die der Gesellschaft suggerierte, dass alles bereits entwickelt wurde und verfügbar ist. Auch die Nutzer waren mit den bestehenden Systemen unzufrieden.
Welchen Einfluss nahmen die Mediziner, damit der Prozess in Gange kam?
R. Riener: Die einzelnen Disziplinen waren früher in sich zu stark isoliert. Die Mediziner wussten, was sie bräuchten, allerdings war es für die Ingenieure schwierig, deren Ideen umzusetzen. Zudem gingen Letztere zu wenig auf die Bedürfnisse der Patienten und der Mediziner ein. Um den Prozess zur Forschung für sinnvollere Assistenzsysteme in Gang zu setzen und die Akzeptanz zu erhöhen, brauchte es in erster Linie Mut. Die Vision, über Assistenzsysteme für Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen zu forschen, haben viele Kollegen. Jedoch fehlte ihnen die Courage, das Problem in der Gesellschaft zu äussern und einen Wettkampf auf die Beine zu stellen, der zum einen die Entwicklung von neuer, besserer Technologie fördert, zum anderen auch Berührungsängste mit dem Thema Behinderung abbaut.
Ist der Cybathlon also dadurch entstanden, weil ein Wettbewerb eine höhere Akzeptanz in der Gesellschaft geniesst?
R. Riener: Wir verfolgen mit dem Cybathlon zwei grundlegende Ziele: Zum einen geht es darum, die Technologie-Entwicklung zu fördern, indem wir die besten Teams zur Teilnahme einladen und sie motivieren, etwas Neues zu gestalten sowie zu ermöglichen. Zum andern geht es auch um die Förderung von Inklusion. Die Leute erkennen, dass auch Menschen mit Behinderung Spitzenleistungen vollbringen können. Wir führen am Cybathlon Menschen mit und ohne Behinderung zusammen, schon im Vorfeld unter den Entwicklern und Organisatoren, und schliesslich auch unter den Zuschauern. Das Thema Behinderung soll, dank dem Wettbewerb, zu einer gewissen Normalität werden.
Haben sich die Disziplinen im Laufe der Jahre verändert?
R. Riener: Wir führen gerade in diesem Jahr zwei neue Disziplinen ein, die anderen sechs bleiben immer noch die alten. Wir mussten die Herausforderungen bei den Wettbewerben immer wieder neu anpassen, weil die Technologien, auch dank Cybathlon, immer besser wurden. Zu Beginn bauten wir für die Rollstühle, die eine Treppe mit drei Stufen zu bewältigen haben. Danach erhöhten wir auf sieben Stufen und heute verwenden wir bereits eine Wendeltreppe, da die Geräte immer besser werden. Jedes Mal, wenn wir neue Disziplinen dazunehmen, entstehen auch Lösungen dafür; und das genau ist die Idee. Mit der Gestaltung der Wettkämpfe haben wir die Möglichkeit, die richtigen Herausforderungen zu definieren, die für den Alltag am meisten Sinn ergeben, wie zum Beispiel eine Türe öffnen, Wäsche aufhängen, Treppensteigen, eine Rampe bewältigen. Daraus entstehen funktionierende Geräte. Wir stellen die Teams vor alltägliche Aufgaben, indem wir die passenden Parcours-Elemente in den Wettkampfparcours einbauen.
Ist der Cybathlon am Ende nicht so etwas wie die Paralympics?
R. Riener: Die Idee dahinter ist ähnlich, und zwar, dass wir Wettkämpfe organisieren, an denen Menschen mit Behinderung teilnehmen. Aber wir verfolgen ein anderes Ziel. Bei unserem Wettbewerb dürfen die Teilnehmenden Technik verwenden, mit der sie den Alltag besser bewältigen können, um so auch besser integriert zu werden. Bei den Paralympics geht es in erster Linie um die Schnellsten und die Stärksten. Nehmen wir als Beispiel einen Rollstuhl. Mit diesem allein kommen Sie eine Treppe nicht hoch. Zusätzliche Motoren und Sensoren am Rollstuhl ermöglichen als Hilfsmittel, Menschen mit körperlichen Einschränkungen alltägliche Situationen besser zu meistern. An den Paralympics sind solche Technologien nicht zugelassen. Zur Durchführung der Wettkämpfe sind athletische Höchstleistungen gefragt. Beim Cybathlon dagegen kann und soll sogar jeder Mensch mit körperlichen Einschränkungen teilnehmen können, nicht nur Spitzensportler. Und das geht nur durch die Unterstützung mit Technik. Der Cybathlon ist somit alltagsorientierter.
Wir sehen hier ein interessantes Assistenzsystem, das an einen Rucksack erinnert. Auf welche Weise unterstützt das System die Anwender?
R. Riener: Es handelt sich bei diesem Exponat um ein sogenanntes Myoshirt. Es hilft Personen mit Einschränkungen bei der Armmuskulatur, alltagstaugliche Manipulationen durchzuführen.
Gehen wir bei diesem Myoshirt technisch etwas in die Tiefe. Wirkt immer dieselbe Kraft auf den Arm oder sind für die Erfassung der aufzubringenden Energie Sensoren verbaut?
R. Riener: Selbstverständlich passt sich das System an, es wird zum Beispiel die Armhöhe erfasst. Die aufzubringende Kraft richtet sich nach der Armstellung. Ist der Arm auf Brusthöhe, muss eine wesentlich höhere Kraft aufgewendet werden als bei einer geringeren Armhöhe. Zudem ist die Person mittels spezieller Eingabemöglichkeiten in der Lage, die Unterstützung für die Alltagsaktivitäten, wie zum Beispiel kochen oder abwaschen, selbst zu variieren. Zum Beispiel nach einer gewissen Zeit, wenn sich eine Ermüdung einstellt. Bei diesem Prototyp funktioniert das Handling noch via Computer, in Zukunft ist dafür eine App oder sogar eine Spracheingabe angedacht. Zur Messung der Armstellung verwenden wir Beschleunigungs- und Neigungssensoren, ähnlich wie sie in Smartphones verbaut sind. Wir versuchen nach Möglichkeit, immer auf kommerzielle Bauteile zurückzugreifen, um die Entwicklungskosten zu senken und damit einen realistischen Preis für das Endprodukt zu erzielen.
Ist es grundsätzlich das Ziel, marktübliche Komponenten für den Bau von Assistenzsystemen zu verwenden?
R. Riener: Schauen Sie, ein solches System besteht aus unzähligen Komponenten. Wenn wir alles von Grund auf entwickeln müssten, kämen wir nirgendwo hin. Das Neuartige sind nicht die einzelnen Hardwarekomponenten, sondern das Gesamtsystem, das aus vielen Einzelkomponenten besteht, die alle richtig zusammenarbeiten müssen. Der Software kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, zum Beispiel die Regelungsstrategie. Eine weitere Herausforderung liegt in der Individualisierbarkeit, dies gilt sowohl für die Software als auch für die Hardware. Dass die Manschetten passen und nicht unangenehm drücken. Sie sollen für jede Person anpassbar sein und dass man sie selbstständig rasch an- und ausziehen kann. Die Software soll erkennen, welche Bewegung der Mensch im Moment ausführen möchte, und muss sich automatisch adaptieren.
Es ist auch nicht so einfach, den geeigneten Motor zu finden, vor allem, weil er über eine möglichst hohe Leistungsdichte verfügen soll. Wir kooperieren dafür mit Maxon, da manchmal eine Spezialentwicklung notwendig ist. Beim Myoshirt agiert die Technik eng zusammen mit der Person. Das macht es viel schwieriger.
Wir nutzen bei diesem Modell zudem Machine-Learning-Algorithmen. Diese lernen fortlaufend aus gemessenen Daten, die sich aus der Interaktion zwischen Gerät und Patienten ergeben, sodass sie sich nach einiger Zeit viel besser auf individuelle Situationen anpassen können.
Im Grunde genommen geht es darum, mittels künstlicher Intelligenz die Regler-Algorithmen zu trainieren und zu optimieren. Ein auf diese Weise trainiertes System kann anschliessend automatisch die entsprechende Bewegungsintention erkennen, z. B., ob die Person gerade eine Orange schält oder eine Zwiebel schneiden möchte.
Hilft auch der 3D-Druck, individualisierte Assistenzsysteme schneller herzustellen?
R. Riener: Der 3D-Druck unterstützt uns natürlich enorm beim Prototypenbau. Wir brauchen normalerweise geringe Stückzahlen und die Objekte müssen auch nicht von Beginn weg perfekt funktionieren, zum Beispiel bezüglich der Festigkeit.
Wir können ein Teil konstruieren, ausdrucken, testen und allenfalls notwendige Anpassungen vornehmen. So sind wir mit dem 3D- Druck schneller und die Innovationszyklen werden dadurch kürzer.
Können Sie uns einige Beispiele für erfolgreiche Assistenzsysteme, sozusagen Leuchtturmprojekte, nennen, die in den vergangenen Jahren entwickelt und anschliessend realisiert wurden? Unter dem Motto: von der Vision zum Produkt.
R. Riener: Manche Geräte kann man heute beschaffen, zum Beispiel der Myosuit zur Unterstützung von Gehbewegungen. Dieses Assistenzsystem wird primär in Spitälern als Trainingsgerät verwendet. Wenn Sie in Kliniken gehen, werden sie einige Geräte finden, die aus unseren Laboren stammen, wie zum Beispiel den «Armeo-Power» oder den «Lokomat», der auch Komponenten aus meinem Labor beinhaltet.
Es ist allerdings meistens so, dass die Produkte, die entstehen, eher ein Zufall sind. Wir sind keine Firma und verfolgen nicht die Absicht, Produkte zu entwickeln. Unser Ziel ist es, Fragen zu beantworten, welche die Gesellschaft, Ärzte, Patienten voranbringen. Dafür betreiben wir Forschung. Wir wollen wissen, wie der Körper funktioniert und wie wir ihn durch Technik besser unterstützen können.
Erst nachdem zwanzig Versuche fehlgeschlagen hatten, funktioniert der einundzwanzigste, bei dem wir erkennen: Okay, daraus könnte nun auch ein Produkt entstehen. Das ist natürlich schön, aber nicht das primäre Ziel. Wir wollen Probleme verstehen und Fragen beantworten wie: Wie werden Bewegungen überhaupt erzeugt, wie kann man Spastik reduzieren, oder mit welchen robotischen Hilfsmitteln profitieren Patienten am meisten?
Ich nehme an, dass in diesem Labor nicht nur Ingenieure an der Entwicklung von Assistenzsystemen arbeiten? Wie setzen Sie die Teams zusammen, damit alle relevanten Interessengruppen auf Systeme Einfluss nehmen können?
R. Riener: Dazu kann ich Folgendes anmerken: Wir sehen uns eher als Forschungs- und wenig als Entwicklungsteam. Natürlich entsteht daraus auch viel Entwicklungsarbeit. Mein Team besteht aus Ingenieuren des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und aus Informatikern. Darüber hinaus haben wir auch Experten aus den Bewegungswissenschaften und Biomechanik. Erweitert werden die Teams zudem mit Ärzten und Therapeuten. Wir arbeiten auch direkt mit Betroffenen zusammen, zum Beispiel mit Patienten aus dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, mit dem wir schon seit längerer Zeit eng kooperieren. Wir betreiben vor Ort auch ein AI-Labor. Als Kadermitarbeiter des Spitals Balgrist ergeben sich viele weitere Zusammenarbeiten, zudem haben wir regelmässigen Kontakt mit etwa zehn weiteren Kliniken im In- und Ausland.
Ist es einfach, Probanden zu motivieren, oder gibt es mehr Skeptiker?
R. Riener: In der Regel gibt es keine grossen Probleme, denn die Leute sind neugierig. Selbstverständlich müssen wir uns bemerkbar machen und auf die Suche gehen. Dazu machen wir Ausschreibungen oder die Ärzte-Kollegen fragen uns auch direkt an. Selbstverständlich muss dabei alles ethisch korrekt ablaufen. Die Vorbereitung unserer Entwicklungen und Studien an Patienten ist daher ein langwieriger Prozess.
Die Motivation der Probanden für unsere Studien ist sehr unterschiedlich. Wenn jemand von Geburt an eine Behinderung hat, geht die Person damit viel selbstverständlicher um. Ist die Behinderung durch einen Unfall oder eine Erkrankung erworben, dann sehnt sich diese Person häufig nach dem alten Zustand. Letztere Gruppe ist einfacher zu motivieren.
Wie beurteilen Sie die aktuelle politische sowie gesellschaftliche Unterstützung für Forschung und Entwicklung von Assistenzsystemen? Müssten weitere Massnahmen ergriffen werden, um diese Unterstützung zu verbessern? Ich spreche an dieser Stelle explizit von den Verbänden und von der Politik.
R. Riener: In der Regel reagieren diese Gruppen vernünftig. Sie sagen nicht: Wir geben kein Geld, weil wir Bedenken bei dieser Technik haben. Ein Teil der Gesellschaft ist besorgt, weil sie Bedenken bezüglich der Technologie hat oder sich Sorgen macht, davon zu sehr abhängig zu werden. Die Politik reguliert viele Verfahren und vergibt einen Grossteil der Forschungsgelder – jedoch nicht genug, um den Forschungsstandort Schweiz weiterhin nachhaltig zu fördern. Leider werden die Prioritäten anders gelegt.
Wie sehen Sie die Zukunft von Assistenzsystemen und wie wird sich die Technologie in den nächsten Jahren weiterentwickeln?
R. Riener: Wir forschen inständig an neuen Technologien, um Behinderungen und Erkrankungen besser zu behandeln. Bei den aktuellen Themen geht es um Miniaturisierung, Verbesserung des Komforts und der Wirksamkeit sowie um eine schnellere Anpassbarkeit bei verschiedenen Nutzern. Wir entwickeln viele neue Therapiegeräte, zum Beispiel für den Einsatz nach einem Schlaganfall. Hier sehen wir ein grosses Verbesserungspotenzial. Ein solches Gerät braucht ein Patient in der Regel mehrere Wochen bis circa ein halbes Jahr, um danach wieder Bewegungsfunktionen und eine gewisse Selbständigkeit zurückzugewinnen.
Wir verstehen noch nicht genau, warum sich gewisse Patienten recht schnell komplett erholen und andere deutlich weniger. Was wir bisher wissen ist, dass es die Dosis ausmacht, also die Häufigkeit und die Intensität der Therapie. Wir erforschen, warum die einen Patienten auf die Therapien viel besser reagieren als die andern. Danach können wir die Geräte anpassen und optimieren.
Es geht also erneut in Richtung «noch mehr Individualisierung».
R. Riener: Genau, hier bestehen durchaus Parallelen zur Pharmazie. Die personalisierte Medizin oder Präzisionsmedizin geht in eine ähnliche Richtung. Auch hier wird geforscht, warum das eine Medikament beim Probanden A wirkt und beim Probanden B nicht.
Es existieren bereits jetzt schon viele Technologien zur Unterstützung von Bewegungstherapien. Unsere Aufgabe besteht in Zukunft darin, die Technik, insbesondere die Software, zu verbessern und für den Einsatz zu optimieren.
Es geht in der nächsten Zeit darum, mehr Daten zu erfassen und auszuwerten, einerseits, um die Regler der Roboter zu verbessern, und andererseits, um die Patienten besser zu bewerten. Unsere Algorithmen beantworten uns Fragen wie: Macht der Patient die Bewegung gut oder spielt er das Spiel richtig? Wir können im Bedarfsfall, praktisch ohne Verzögerung, die Reglerstrukturen anpassen, denn der Roboter lernt anhand dieser Daten immer weiter dazu.
(ID:49417845)