Autonomes Fahren Selbstfahrende Lkw könnten Lieferketten entlasten

Von Gaurav Tomar, Industry Manager EMEA Automotive bei MathWorks

Anbieter zum Thema

Computermodellierung hilft bei der Gestaltung der Zukunft autonomer Sattelschlepper.TuSimple möchte Fernverkehrsstrassen mit autonomen Lkw sicherer und effizienter machen und gleichzeitig Kosten und CO2-Bilanz senken.

TuSimple-Flotte von autonomen Lkw.
TuSimple-Flotte von autonomen Lkw.
(Bild: TuSimple)

Weltweit stehen Hunderttausende Beschäftigte mitten in der Nacht auf und klettern in das beengte Führerhaus eines Sattelzugs. Diese Arbeitskräfte transportieren Jahr für Jahr Milliarden Tonnen an Fracht zu Warenlagern, Supermärkten und Häfen. Jährlich bewegt die Transportindustrie knapp 11 Milliarden Tonnen an Fracht mit von Menschen gelenkten Sattelzügen.

Obwohl diese Gespanne entscheidend für die Aktivitäten von Lieferketten auf der ganzen Welt sind, sieht sich die Branche mit einem zunehmenden Fahrermangel konfrontiert. Die Lkw-Branche tut sich schwer, vorhandene Arbeitskräfte zu halten und neue Fahrer zu zertifizieren, zumal während der Covid-19-Pandemie die Fahrschulen zeitweise geschlossen waren. Diese Kombination verschiedener Umstände erschwert es der Branche weiterhin, die steigende Nachfrage nach Gütern – von Kraftstoffen bis hin zu Elektronik – zu befriedigen.

Bildergalerie

Grosse Gespanne im Fernverkehr sind ausserdem ein Albtraum für die Sicherheit der Arbeitskräfte. Aufgrund langer Arbeitszeiten und häufiger Fahrten in der Nacht oder am frühen Morgen sind Lkw-Fahrer stärker anfällig für Ermüdung als andere Fahrer. Laut dem amerikanischen CDC beeinträchtigt übermüdetes Fahren die Fahrfähigkeit ebenso stark wie Fahren unter Alkoholeinfluss. In genau dieser Kombination von Problemen, mit denen die Speditionsbranche konfrontiert ist, erkannten Xiaoling Han und seine Kollegen bei TuSimple eine Chance für eine ganz neue Lösung: autonome Technologie für schwere Lkw. Han, Senior Director für die Integration von Sensoren und Fahrzeugsteuerungen bei TuSimple, sagt, diese Fahrzeuge könnten ein bedeutendes Problem der Lkw-­Branche lösen. «Autonome Lkw bieten einen deutlich höheren geschäftlichen Nutzen als autonome Pkw, da die Routen hochgradig wiederholbar sind und der Grossteil der Fahrten auf Fernverkehrsstrassen stattfindet», erörtert Han. «Das Problem des autonomen Fahrens ist für Lkw zwar extrem schwierig, allerdings gibt es dabei deutlich weniger Probleme zu lösen als bei autonomen Pkw.» Mit autonomen Lkw, so Han, könne TuSimple Fernverkehrsstrassen sicherer und effizienter machen und gleichzeitig Kosten und CO2-Bilanz von Lkw senken.

Der Weg zur Autonomie

«Technologien werden heutzutage in den verschiedensten Bereichen als autonom bezeichnet, von Staubsaugerrobotern bis zu neuen Fahrzeugmodellen. Doch viele dieser Technologien bieten keine echte Autonomie», erklärt Govind Malleichervu, Automotive Industry Manager bei MathWorks.

Laut Definition der Society of Automotive Engineers gibt es für Fahrzeuge sechs mögliche Autonomiestufen, von Stufe 0 bis Stufe 5. Die Stufen 0 bis 3 reichen von keiner bis hin zu begrenzter Automatisierung, darunter Lenk- oder Bremsunterstützung. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten dieser Technologien müssen Menschen nach wie vor das Fahrzeug steuern und diese Systeme beaufsichtigen. Von Autonomie der Stufe 5, bei der das Fahrzeug alle Fahraufgaben selbst durchführt, sind wir derzeit noch viele Jahre entfernt.

«Die autonomen Fahrfunktionen vieler OEMs sind auf Stufe 2 oder Stufe 2+», sagt Malleichervu. Das Plus steht dabei für hö­here Autonomie, bei der Stufe 3 noch nicht ganz erreicht wird. «Auf diesen Stufen steuert das Fahrerassistenzsystem (ADAS-­System) des Fahrzeugs Bremsanlage, Beschleunigung und Lenkung, wobei der menschliche Fahrer nach wie vor stets auf seine Umgebung achten und alle anderen Fahraufgaben durchführen muss.» Diese relativ eingeschränkte Autonomie ist zum Teil durch die Sicherheitsbedenken begründet, die mit dem Testen und Entwickeln von ADAS für Fahrzeuge in städtischen Umgebungen verbunden sind.

Hier hätten die Lkw von TuSimple einen Vorteil, erklärt Han. Zwar rechnet das Unternehmen nicht damit, dass seine Lkw vor 2024 in vollem Umfang auf den Strassen unterwegs sein werden, doch das Testen dieser Technologie auf weniger dicht befahrenen Fernverkehrsstrassen statt in Stadtzentren bietet einen einfacheren Weg zum Erreichen vollständiger Autonomie. Um autonome Fahrzeuge in einer Stadt testen zu dürfen, müssen Unternehmen zuerst mit den örtlichen Behörden Vereinbarungen darüber treffen, wo, wie häufig und mit welchen Geschwindigkeiten sie ihre Fahrzeuge testen dürfen. Das bedeutet in vielen Fällen, dass sie den für Tests verfügbaren Bereich verkleinern und die Zeit verkürzen müssen.

Jetzt Newsletter abonnieren

Verpassen Sie nicht unsere besten Inhalte

Mit Klick auf „Newsletter abonnieren“ erkläre ich mich mit der Verarbeitung und Nutzung meiner Daten gemäß Einwilligungserklärung (bitte aufklappen für Details) einverstanden und akzeptiere die Nutzungsbedingungen. Weitere Informationen finde ich in unserer Datenschutzerklärung.

Aufklappen für Details zu Ihrer Einwilligung

Ein weiterer Vorteil der Tests auf Fernverkehrsstrassen besteht darin, dass es weniger Fussgänger als in den Städten gibt und Stop-and-go-Verkehr sowie enge oder unebene Strassen weitestgehend vermieden werden. Zwar besteht dabei nach wie vor das Risiko, dass andere Fahrer zu Schaden kommen, wenn etwas schiefgeht, doch die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalls wird definitiv reduziert.

Laut Han erreichen die Lkw von TuSimple zurzeit Autonomiestufe 4. Das bedeutet, dass die Fahrzeuge unter eingeschränkten Bedingungen selbstständig und ohne Unterstützung durch einen menschlichen Fahrer fahren können. Allerdings sehen die Pläne von TuSimple vor, dass menschliche Fahrer weiterhin im Fahrersitz die Kontrolle behalten müssen. Im Gegensatz zum heutigen Lastverkehr, der menschlichen Fahrern durchgehende Aufmerksamkeit abverlangt, würden Lkw auf Autonomiestufe 4 oder 5 ihnen eine Möglichkeit bieten, sich bei nächtlichen Fahrten auf leeren Strassen auszuruhen.

Ein entscheidender Aspekt dieser Autonomie, an deren Entwicklung Han und sein Team arbeiten, ist ein autonomes Brake-­by-Wire-System. Das Gewicht der Sattelzüge erschwert in Kombination mit der Dynamik beim Ziehen eines voll beladenen Anhängers das schnelle Anhalten. Ein voll beladener Lkw kann bis zu 36 000 kg wiegen. Ein Pkw wiegt hingegen nur etwa 1360 kg. Das Bremssystem muss in der Lage sein, einen schweren Lkw, der mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn fährt, sicher anzuhalten.

«Das Brake-by-Wire-System ist äusserst komplex», sagt Han. «Die gesamte Kette beginnt bei der Wahrnehmung, bei der unser Programm die Umgebung vor und hinter dem Fahrzeug betrachtet. Dies beinhaltet Bewegungsplanung, Vorhersage sowie den Regelungsalgorithmus.»

Mithilfe von Wahrnehmung und Sensoren wie beispielsweise LiDAR erhält das autonome L4-System von TuSimple eine 360-Grad-Sicht rund um das Fahrzeug und kann 1000 Meter voraussehen. Diese Daten würden anschliessend an das sicherheitskritische Brake-­by-Wire-Steuerungssystem übergeben, erläutert Han, das die Verbindung zwischen der Softwarewahrnehmung und der Hardware des Lkw herstellt, um einen sicheren Bremsvorgang einzuleiten.

«Die Bremsen sind das elementarste System beim autonomen Fahren», sagt Han. «Das Sicherheitsniveau der Bremsen ist höher als das aller anderen Systeme.»

Die strengeren Standards für das Bremssystem spiegelten sich auch in seinen Redundanzen wider, erklärt Han. Dadurch könnten Menschen eingreifen und manuell bremsen, falls es zu einem Fehler kommt.

«Für andere Teile des Fahrzeugs, bei­spielsweise den Motor, reicht ein bestimmtes Redundanzniveau aus», so Han. «Da aber Bremssysteme das sicherheitskritischste Teil des Fahrzeugs sind, brauchen wir eine vollständige Redundanz, einschliesslich aller physischen, Signal-, Energie- und Software­systeme.»

Auf das Modell vertrauen

TuSimple testet seine Sattelzüge bereits auf echten Fernverkehrsstrassen, darunter eine 1530 km lange Strecke von Arizona nach Oklahoma zur Auslieferung von Wassermelonen. Verlässt man sich jedoch ausschliesslich auf Strassentests, könnten die Kosten schnell in die Höhe schiessen, so Han. Stattdessen verlässt sich das Team weitgehend auf Modellierung und Simulationen als sichere und kostenwirksame Alternative für die Entwicklung der By-Wire-Steuerung. Laut Han werden ganze 90 Prozent der Tests der Lkw-Steuereinheiten mithilfe von Modellen durchgeführt, die in Matlab, Simulink® und anderen Softwareprogrammen entwickelt wurden. «Wir testen das Brake-by-Wire-System nur 10 Prozent der Zeit am Fahrzeug, da dies sehr kostspielig ist», sagt Han. «Es erfordert menschliche Arbeitskraft und zusätzliche Koordination. Deshalb führen wir die meisten Tests in Simulationen durch.»

Für die Simulationen muss modelliert werden, wie verschiedene Sensoreingaben, z. B. LiDAR und Radar, über Mikroprozessoren an die physischen Regelungssysteme des Lkw übertragen werden. Die Verwaltung dieser Komponenten mithilfe eines Modells ermöglicht es den Teammitgliedern, gleichzeitig an dem Entwurf zu arbeiten, auch wenn sie sich an verschiedenen Orten befinden.

«Das Team kann das Modell referenzieren, um nachzuprüfen, was im Fahrzeug geschieht», erläutert Han. «Das ist viel einfacher, als den Code zu lesen. Das Modell dient als Single Source of Truth für das gesamte Team, das an der Steuereinheit des Fahrzeugs arbeitet, weil wir auf Basis des Modells mit allen beteiligten Teams kommunizieren können.» Die Modelle trügen auch dazu bei, die Zahl der von menschlichen Programmierern verursachten Fehler zu reduzieren, indem sie automatisch Codes zur Implementierung von Entwürfen auf den Modellebenen generieren, so Malleichervu. Mit diesem Ansatz kann das Team die autonomen Systeme mit verschiedenen Fahrzeugeinschränkungen testen, beispielsweise unterschiedlichen Motoren oder Frachtgewichten. Bei der Handhabung der Varianten stützt sich das Team auf Matlab-Skripte und GitHub.

Neue Wege gehen

Abgesehen von der Einfachheit sagt Han, dass die vorrangige Nutzung virtueller Modelle beim Testen neuer Entwürfe dem Team auch helfe, sich von einem Standard-­Entwurfsmodell der Automobil- und Softwarebranche, dem sogenannten V-Modell, zu lösen.

Das V-Modell, auch als Verifikations- und Validierungsmodell bekannt, ist ein Entwicklungsansatz, bei dem Analyse, Entwurf und Validierung vor der Implementierung neuer Funktionen systematisch durchlaufen werden. Laut Malleichervu dauere die vollständige Umsetzung eines Motor- oder Fahrzeugprogramms mit dem V-Modell in der Regel daher drei bis fünf Jahre, und die Implementierung von Upgrades in einen bestehenden Entwurf erfordere etwa ein Jahr.

Für TuSimple sei diese Methode zu langsam gewesen, so Han. Stattdessen implementierte das Unternehmen eine Mischmethode, die bei der Entwicklung seiner autonomen Systeme sowohl das V-Modell als auch agile Methoden einbezieht.

«Wir haben eine sehr schnelle Iterationsphase, was bedeutet, dass wir die By-Wire-­Steuerungssoftware innerhalb von Wochen statt Jahren veröffentlichen können», sagt Han. «Deshalb müssen wir auch den agilen Entwicklungsprozess befolgen. Und deshalb verlassen wir uns auch auf Modellierung. Ohne Modellierung ist es äusserst schwierig, eine Funktion innerhalb eines Monats zu veröffentlichen, weil man in diesem Monat die Codierung, die Tests, die Validierung, einfach alles abschliessen muss.»

Mit diesem hybriden Ansatz kann Tu­Simple Patches für die By-Wire-Software in weniger als 24 Stunden veröffentlichen, neue Funktionen in einem Zeitraum zwischen 72 Stunden und zwei Wochen. Han ist überzeugt, dass diese neuartige Entwicklungs­methode und Modellierung TuSimple helfen werden, sein Ziel zu erreichen, seine autonomen Sattelzüge bis 2024 auf die Fernverkehrsstrassen zu bekommen.

(ID:48586174)